Philothea II. Abschnitt Kapitel 8
Nützliche Ratschläge für
die Betrachtung
2. Nach der Betrachtung musst du dich in acht nehmen, deinem Herzen keinen
Stoß zu versetzen; damit würdest du das Kostbare verschütten, das du durch
die Betrachtung gewonnen hast. Ich will sagen: Bleib eine Zeit lang still,
wende dich ganz ruhig vom Gebet zur Arbeit hin und halte, solang es dir
möglich ist, die Stimmung und Affekte fest, die du empfangen hast.
Wer in einem schönen Porzellangefäß eine kostbare Flüssigkeit nach Hause
trägt, wird gewiss vorsichtig gehen, nicht seitwärts, sondern vor sich hin
schauen, um nicht über einen Stein zu stolpern oder einen Fehltritt zu
machen; er wird auf das Gefäß schauen, ob er es auch gerade hält. So handle
auch du nach der Betrachtung. Zerstreue dich nicht sogleich, sondern schau
ruhig vor dich hin. Triffst du jemand, mit dem du sprechen musst, so tu es
ruhig, schau aber zugleich auf dein Herz, dass die kostbare Flüssigkeit
deiner Geistessammlung so wenig wie möglich ausfließe.
3. Du musst auch lernen, vom Gebet zu jeder Arbeit überzugehen, die dein
Beruf und Stand verlangen, auch wenn sie weitab von den Affekten deiner
Betrachtung liegt. So muss der Rechtsanwalt nach der Betrachtung an die
Prozessrede gehen, der Kaufmann zu seinem Geschäft, die verheiratete Frau an
ihre Ehepflichten und häuslichen Arbeiten, - und das so ruhig und friedlich,
dass es keine Störung im Seelenleben gibt. Das eine wie das andere ist ja
Gottes Wille, darum muss man auch im Geist der Demut und Frömmigkeit vom
einen zum anderen übergehen können.
4. Zuweilen wird es vorkommen, dass dein Herz sogleich nach der Vorbereitung
ganz von Gott ergriffen und bewegt ist. Dann überlass dich ruhig diesem Zug
ohne Rücksicht auf die Methode, die ich dir gegeben habe. Für gewöhnlich
soll wohl die Erwägung den Affekten vorausgehen; gibt aber der Heilige Geist
Affekte vor der Erwägung, so bemühe dich nicht um Erwägungen, denn sie
dienen doch nur dazu, Affekte hervorzurufen. Mit einem Wort: Sei jederzeit
bereit, die Affekte aufzunehmen, ob sie sich nun vor oder nach den
Erwägungen einstellen.
Wenn ich die Affekte nach den Erwägungen eingereiht habe, so geschah es nur,
um die einzelnen Bausteine der Betrachtung besser darzustellen. Allgemein
jedoch gilt die Regel: Man darf die Affekte nicht zurückdrängen, sondern
muss ihnen freien Lauf lassen, sobald sie sich einstellen. - Das sage ich
nicht nur von den Affekten, sondern auch vom Dankgebet, der Aufopferung, dem
Bittgebet, die ebenso während der Erwägung verrichtet werden können. Man
darf sie ebenso wenig zurückhalten wie die Affekte, wenn man sie auch am
Schluss der Betrachtung noch einmal erwecken soll. Die Entschlüsse soll man
erst nach den Affekten am Ende der Betrachtung fassen; da wir uns hierzu
unsere alltäglichen persönlichen Lebensverhältnisse vergegenwärtigen müssen,
bestünde die Gefahr der Zerstreuung, wollte man sie während der Affekte
fassen.
5. Bei den Affekten und Entschlüssen ist es gut, mit dem Heiland zu sprechen
oder mit den Engeln oder mit den Personen, die in dem Geheimnis vorkommen,
mit den Heiligen oder auch mit sich selbst, d. h. mit seinem eigenen Herzen.
Man kann auch die Sünder ansprechen und sogar die vernunftlose Kreatur, wie
wir es in den Psalmen Davids oder in den Gebeten und Betrachtungen der
Heiligen finden.
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