Palmeselchristus
Pastoraltheologische Erwägung
Dekan Prof. Dr. Ludwig Mödl, München

Harmlos klingt das Thema, das hier zur Sprache kommt.1 Der Palmeselchristus wird vielen wie ein marginales Relikt eines volkstümlichen Brauches erscheinen. Deswegen sprechen sie mit leichtem Schmunzeln vom Palmesel. Konnotiert wird dabei: Die Sache ist "nicht so ganz seriös" - vergleichbar einem Volkstheater, das auch nicht ernsthaft als Drama oder Komödie gilt. Ein Palmeselchristus ist eben eine Figur, mit der Menschen einer vergangenen Zeit die Prozession am Palmsonntag gestaltet haben. Sie zeugt vom einfachen Gemüt dieser Menschen. Für die seriöse Liturgie ist sie ein Zugeständnis. Heute interessieren sich dafür nur noch Volkskundler und Kunsthistoriker - ich sage leider; denn der Palmeselchristus bringt uns mehr als andere Kur Kunstwerke auf die Frage, wie denn Kunst in Verkündigung und Liturgie eingebracht werden kann.

So sei, ehe die Palmeselchristus-Figuren des Georgianums einzeln vorgestellt werden, kurz diese Frage angesprochen: Welche Bedeutung kann Kunst für die Verkündigung und die Liturgie haben

I. Bilder in Verkündigung und Liturgie
Theologen waren und sind allemal skeptisch gegenüber den Bildern; denn Bilder sind ambivalent.

1. Die Ambivalanz der Bilder
Bilder bergen in sich zunächst die Gefahr, alles zu vereindeutigen. Sie vermitteln den Eindruck: Das ist es - und nur das! Wer nur das Bild kennt und es einseitig liest, der kann meinen: Das ist schon der ganze Glaubensinhalt. Bei Sprachbildern kann diese Gefahr immer sofort abgewendet werden: Wir können ein zweites Bild daneben setzen, können eine Inszenierung schaffen oder durch eine Sentenz die Sache verallgemeinern. Ein gemaltes oder gemeißeltes Bild aber steht eindeutig und fast zwingend im Raum. Es kann verengen und damit die Fülle der Wahrheit blockieren. Das dürfte - neben anderem - einer der Gründe für das Bilderverbot im Alten Testament gewesen sein: Gott ist immer noch größer, größer als jedes Bild, größer als jede Vorstellung von ihm.2

Neben dieser Tendenz zu verengender Eindeutigkeit finden wir im Gebrauch der Bilder aber auch ein fast gegenteiliges Phänomen. Und das ist den Theologen noch mehr suspekt. Denn bei aller Eindeutigkeit: Was der Betrachter für sich herausliest, das ist nicht kontrollierbar. Ein Bild kann im Betrachter Gedanken oder Vorstellungen erzeugen, die durchaus anderes bewirken, als in der Theologie intendiert ist. Und diese private Deutung ist nicht mehr zu berechnen, da sie nicht auf den Begriff zu bringen ist. So bleibt jedes bildliche Kunstwerk, um mit Umberto Eco zu sprechen, ein offenes Kunstwerk.3 Es erzeugt im Betrachter Assoziationen, die frei weiterwirken. Die eigenen Anschauungen verknüpfen sich mit dem Gesehenen und bringen amorph Vielschichtiges hervor.

Das war wohl der Hauptgrund dafür, dass im 8. Jahrhundert zwei oströmische Kaiser und ihre Theologen so massiv die Bilder im Kirchenraum und im Gebrauch von Christen verbieten wollten. Sie brauchten eine Religiosität des Volkes, die einsetzbar war für die Staatsgeschäfte, die also alles auf den Begriff bringen läßt. Und deshalb lieben auch Theologen die Bilder nicht. Sie wollen den Glauben möglichst korrekt aufgenommen wissen, wollen ihn ins eindeutige Wort bringen. Wer zuhört, der folgt den Gedankengängen des Redners, der denkt in die Richtung einer recht geformten Theologie. Wer Bilder anschaut, der denkt in eigenen Kategorien. Seine Anliegen und seine Ideen werden führend in dem, was er glaubt.4

2. Die erlaubten Bilder
Im II. Konzil von Nikeia (787) haben die Väter dennoch die Bilder erlaubt. Und ihr Hauptargument war: Das alttestamentliche Bilderverbot kann nicht mehr absolut gelten, da Gott uns von sich ein Bild gegeben hat in Jesus Christus. Ein Bild Christi ist damit eine Ikone der Ikone Gottes. Diese ist geschichtlich überliefert, d. h. Stationen des Lebens Jesu bekommen als Erzählungen den Charakter von Vorgängen, die sich in uns wie Bilder festsetzen. Aus ihnen schimmert dann Jesu Wesen hindurch.5

Die Bilder müssen freilich ergänzt werden durch die "Predigt". Und das besagt: Festgefügte Bilder müssen immer wieder zerschlagen bzw. ersetzt werden, damit treffendere das Unsagbare vermitteln. Und zugleich müssen die inneren, frei schwebenden Bilder an eine Begriffsleine genommen werden, damit sie nicht eine Religiosität fern der geschichtlich ergangenen Offenbarung erzeugen. Hierbei nun können auch wirkliche Bilder helfen. Sie interpretieren neu die überkommenen Bilder, setzen neue Akzente, machen auf bisher Unbekanntes aufmerksam. Wer einmal Bilder geschaffen hat, der muss wissen: Er kann nicht mehr aufhören, wieder neue Bilder zu schaffen, um die Verengungen der alten Bilder auszuweiten.

Auf unterschiedliche Weise können Bilder dies zuwege bringen. Denn es gibt unterschiedliche Formen von Bildern. Wir kennen "verdichtende Bilder". Sie machen den Versuch auszudrücken, was dahinter steht. So fasst etwa eine Christus-Ikone das "Wessen" Christi in Farbe und Form. Sie kann freilich nur einen Splitter treffen. Und wie sehr das Ikonenmalen auch ritualisiert und peinlichst in einen Form- und Farbenkatalog eingezwungen wird, sie kann dies nur sehr begrenzt und möglicherweise nur für eine begrenzte Beschauergruppe vermitteln.6 Bilder können auch erzählend oder symbolisierend Vorgänge und Zusammenhänge vorlegen. Dabei erfüllen sie nicht nur eine katechetische Funktion, sind also nicht nur Unterstreichungen der Verkündigungsworte. Vielmehr wollen sie - wenn sie wirkliche Kunstwerke sind - in Bildsprache Deutungen liefern, die nicht einer verbalen Erklärung bedürfen, ja die oftmals in einer Wortsprache nicht mehr ausdrückbar sind. Sie künden in der Sprache der Bilder oder der Kunst. Was sie vermitteln, erzeugt sich in der Seele des Beschauers. Es ist eine Theologie in mir - für mich, angestoßen durch ein Bild.
Dieser Sprache der Bilder muss sich die Kirche bedienen - in jeder Generation neu. Sie muss neben der Sprache der Theologen, neben der Sprache des Inszenariums, neben der Sprache der Symbole und neben der Sprache der Hagiographie (als Wirkungsgeschichte) die Verkündigungsszene mitbestimmen. Bilder zwingen immer neue Bilder anzubieten, um die ersten zu relativieren und das "Gezeigte" zu verdeutlichen. Engt sich die Kirche in eine Bildlosigkeit ein, dann fällt sie in eine sektiererhafte Unprofessionalität, die ausserhalb des Kulturgeschehens steht und damit dem Evangelium Möglichkeiten, das Umfeld zu gestalten, nimmt. (Das jüdische Bilderverbot hat freilich eine Dominanz literarischer Bilder erzeugt.) Jede Generation und jede Zeit hat in diesem Bereich ihre eigene Sprache und ihren eigenen Stil - im Erzeugen von Sprachbildern sowie in Inszenarien und im Schaffen von anschaubaren Bildern. Die Tatsache, dass in unserer Generation der Kontakt von Kirchenleuten zu Schriftstellern, Theaterleuten und Menschen der Kunst so problematisch geworden ist, zeigt mir unzweifelhaft an, dass unsere Kirche nicht auf der Höhe der Zeit steht. Wir brauchen uns nicht wundern, wenn viele von denen uns einstufen, wie sie das "Volkstheater" einstufen, harmlos und wenig lebensgestaltend. Wenn wir Glück haben, dann halten sie uns noch für "Brauchtumspfleger" und "Denkmalschützer".

Es wäre jetzt verlockend zu diskutieren, welchen Platz Kunst im Kirchenraum und in liturgischen Inszenarien einnehmen müsste. Ich versage mir dies und suche vorzulegen, wie Vorgänger beim pastoralen Bemühen für ihre Zeit dies eingebracht haben. Die vier Darstellungen eines Palmchristus, die sich in der Sammlung des Herzoglichen Georgianums befinden, seien uns dazu Anschauungsmittel.

Il. Das Christusbild des Palrachristus aus pastoraltheologischer Sicht7
Vier Figuren eines Palmchristus befinden sich im Museum des Herzoglichen Georgianums. Eine stammt aus dem späten 15. Jahrhundert, die zweite ist 200 Jahre jünger und stammt aus dem 17. Jahrhundert, die beiden anderen sind wiederum ca. 80 Jahre jünger und stammen aus dem 18. Jahrhundert. In diesen Figuren sehen wir also, wie sich in 280 Jahren eine Darstellungsform gehalten hat und sich doch zugleich veränderte. Ich möchte zunächst die spätgotische Figur betrachten, in einem zweiten Abschnitt die Frühbarocke und in einem dritten und vierten die beiden spätbarocken.

1. Der Palmeselschristus von Altstätten8
1886 kam die Figur ins Herzogliche Georgianum. Sie stammt aus Altstätten bei Sonthofen. Offensichtlich war sie dort nicht mehr gebraucht worden. Denn wie sehr das vorige Jahrhundert mittelalterliche Bauformen und Denksysteme pflegte, die als volkstümlich geltenden Bräuche, wie das Mitführen des Palmeselchristus bei. der Prozession, galt dennoch als unzeitgemäß. Dieser Brauch war im 15. Jahrhundert wohl eingebettet in eine Szenerie, die das liturgische Spiel längst ausgeweitet hatte in die profanen Räume hinein. Die Mysterienspiele, insbesondere die Passions- und Osterspiele, erfreuten sich gerade am Ende des 15. Jahrhunderts großer Beliebtheit. Seit dem 10. Jahrhundert gab es bereits eine lange Tradition.
Wahrscheinlich hatte sie sich aus liturgischen Erweiterungen ergeben, die zunächst nur die Kleriker an die Liturgie anfügten und die eher symbolische Gesten darstellten. Die Spiele wurden als Erweiterung der Liturgie empfunden, als eine zu Herzen gehende Predigt. Im Laufe des 14. Jahrhunderts nahm die Dramatik zu und es wurden die Akteure auf alle Stände erweitert. An immer mehr Orten wurden Spiele aufgeführt, welche einzelne Szenen - hauptsächlich der Passions- und Ostergeschichte - inszenierten. Heilige Personen wurden dabei von Klerikern dargestellt, andere bedeutende Figuren spielten Ratsmitglieder oder Honoratioren des Ortes. Nicht selten bildeten sich eigene Gilden, heute würden wir sagen Vereine, um die Spiele zu organisieren und zu gestalten. Für die Zeit gegen Ende des 15. Jahrhunderts kennen wir viele separate Textsammlungen, gerade auch aus dem schwäbischen Bereich, d.h., es gab viele Spiele, die je nur für diesen Ort geschrieben waren und nur dort aufgeführt wurden. Die Erinnerung an diese sehr zu Gemüte gehenden Spiele, so denke ich, haben die Bildhauer und Maler in den Bildszenen der Altäre festgehalten, die sie geschaffen haben. Damals scheint auch eine gewisse Scheu aufgekommen zu sein, Christus durch Menschen darstellen zu lassen. So ersetzte man vornehmlich bei stark ins Rituelle eingebundenen Spielszenen die Christusgestalt durch eine geschnitzte Figur. Die heute noch aus dem Spätmittelalter stammenden Ölbergspiele von Dietfurt (Altmühltal) und Berching (Sulztal)9 laufen so ab, dass ein Ministrant zusammen mit einer beweglichen Christusfigur die sich neigt und die Hände bzw. den Kopf hebt, auftritt.
Unser Palmeselchristus wird dem Meister des Sulzberger Altares zugeschrieben.10 Neuere Untersuchungen sehen ihn in dem Kemptener Bildhauer Ulrich Mair. Das Trinitätsbild des Altares weist zwar stilistische Ähnlichkeiten mit unserem Palmeselchristus auf - vornehmlich die schlanken Gestalten und die Bearbeitung der Haare, läßt aber auch Unterschiede hervortreten, so dass ich (für meine Person) nicht sicher wäre, ob die gleichen Hände am Werk waren. Sicher ist aber eines: Der Meister unseres Palmeselchristus hat hohe Qualität geschaffen. Schauen wir uns die Figur an.
Auf einem breit dastehenden Esel sitzt aufrecht Christus. Der gesenkte Kopf des Esels mit den überlangen Ohren schaut nicht auf den Boden, sondern zum Betrachter her. Wie ein Thron wirkt das stehende Tier, auf dem Christus kerzengerade sitzt. Mit der linken Hand hält er die Zügel, die rechte ist zum Segen erhoben, wobei Daumen, Zeige- und Mittelfinger ausgestreckt, der Ringfinger und der kleine Finger eingezogen sind. Der Blick Christi ist streng. Ein König sitzt hier auf seinem Thron, die Augen unbeirrt nach vorne gerichtet. Der von einem edlen Bart umgebene Mund ist stumm. Das wallende Haar fließt auf beiden Seiten über die Schultern nach rückwärts - auf der Halshöhe abknickend, so dass über das edel geschnittene und bis zu den Knöcheln reichende Kleid ein Pluviale aus Stoff gehängt werden kann. In der Königsfarbe, einem ins Purpur gehenden Rot, ist das Kleid gehalten. Die Faltungen betonen die edle Gestalt, während der Halsabschluss in seinem einfachen Schnitt anzeigt, dass ein Königsmantel noch darüber gehängt werden soll. Die Einkerbung am Haarkranz zeigt an, dass die Christus-Figur eine Krone trug. Wir müssen uns diese vorstellen als mehrzackigen Holz- oder Metallreif mit Kreuzblumenabschlüssen.

Eine herrscherliche Figur begegnet uns hier, voll edler Strenge und bar jeder Schwäche. Auch wenn die Füße den Boden nicht erreichen, schon von der Erde abgehoben haben, sein Thron, der junge Esel, steht fest auf der Erde - wie mit vier Thronfüßen. Der Sohn Davids steht hier, um in seine Stadt einzuziehen, er ist zugleich eine Christus-Ikone. Der königliche Christus wird hier zu Beginn der Karwoche den Beschauern vorgestellt. Dieser König wird in den folgenden Szenen und Tagen in Leid und Schmerz gezeigt werden. Aber er ist immer der gleiche. Denen, die in ein Nachleiden und in ein Mitleiden eingetaucht werden, wird vornweg schon gezeigt: Er ist der Herr! Damit wird es ihnen ermöglicht, das "Hosanna dem Sohne Davids" zu singen und nachzuvollziehen; ein wirklicher Herrscher wird ihnen durch das Bild des Palmeselchristus gezeigt. Und auch wenn die Figur - neben der Palmprozession- an Fronleichnam mitgetragen wurde, konnte den Beschauern deutlich werden: Der wirklich im Sakrament anwesende Herr ist der endzeitliche David, der Herrscher über die Welt.

Die vier Einschnitte an den Ecken des Brettes sind wohl Halterungen, mit deren Hilfe die Figur auf einem Schlitten, auf einem Handwagen oder auf Tragstangen eingehängt werden konnte.

Die Figur war bis 1886 in der Pfarrkirche von Altstätten zu Hause. Diese Kirche, von 1732 bis 1734 erbaut, hatte eine spätmittelalterliche Vorgängerin, die wohl aus der Zeit unseres Palmeselchristus stammte. Um 1885/86 hat man die barocken Figuren Anton Sturms (von 1754) aus der Kirche entfernt und 1890 die Kirche im Zeitgeschmack ausgemalt. In diesem Zusammenhang wurde wohl auch der Palmeselchristus weggegeben, obwohl er spätgotisch war. Aber offensichtlich hat das Thema so wenig interessiert, dass man die Qualität der Figur übersehen hat.

2. Der Palmeselchristus von Polling
200 Jahre jünger ist der zweite Palmeselchristus, den das Museum des Georgianum besitzt. 1680 wird als Entstehungsjahr angegeben. Als Herkunftsort heißt es: Oberbayrisch, Augustiner-Chorherrnstift Polling,11 Der Kenner der Zeit ist bei dieser Angabe elektrisiert; denn Polling, das von Tassilo um 750 zunächst als Benediktinerkloster gegründete und im 11. Jahrhundert zum Augustiner-Chorherrnstift umgewandelte Monasterium, war zu dieser Zeit ein Zentrum des "neuen Geistes" und der Wissenschaft.12 Die Aufschrift über dem Eingang der Klosterkirche zeigt die Intention derer, die hier Wissenschaft und Glaube zusammenbringen und für die Kirche der Neuzeit nutzbar machen wollten: Liberalitas Bavarica! Als erste aller süddeutschen gotischen Kirchen wurde Polling 1624 bis 1631, also noch während des Dreißigjährigen Krieges, umgewandelt in einen Barockraum - nach dem Raummuster der Michaelskirche von München. Bartlme Steinle schuf 1623 einen Doppelaltar, dessen oberer Teil Behälter für das "Pollinger Kreuz", das Zentrum einer Wallfahrt, wurde. (Könnte er der Meister unseres Palmeselchristus sein?) Polling besaß die zweitgrößte Bibliothek Süddeutschlands, nur die Münchener Hofbibliothek war größer. Polling entwickelte sich im 17. Jahrhundert (und noch mehr im 18. Jahrhundert) zum Zentrum der katholischen Aufklärung. Mehrere Professoren aus Polling wirkten in Ingolstadt an der Universität und zeugten von deren großzügigem Geist. Der bedeutendste war - allerdings eine Generation später - der Mathematiker, Philosoph und Theologe Eusebius Amort (1692-1777). Naturwissenschaft und Geschichte waren neben Theologie und Philosophie die zentralen Interessengebiete der Pollinger Chorherren. Auf die von Polling aus gegründete und weithin auch gestaltete Zeitschrift "Parmassus Boicus" geht letztlich die Gründung der Bayerischen Akademie der Wissenschaften zurück. Ein zentraler Ort aufgeklärten Geistes, in welchem der Glaube in das Lebensgefühl des neuzeitlichen Menschen eingebunden wurde, ist also der Platz, für den unser Palmeselchristus geschaffen wurden, an dem er aufgestellt und eingesetzt war. Die Patres, die fast alle Wissenschaftler waren, hatten nichts gegen eine angemessene Anschaulichkeit. Schon aus pädagogischen Gründen müsse man Anschauliches zulassen in der Religion - aber mit Maß, nicht gegen den historischen Sinn und nicht mit Wundersucht verbunden. Die Mathematiker, die Philologen, die Physiker, die Archäologen, die Paläontologen, die Historiker und Philosophen erbauten sich an dem Palmeselchristus als einem Anschauungsmittel, um die theologisch bedeutsame Szene des Einzugs in Jerusalem zu explizieren; denn er stellte ihnen vor Augen, was am Palmsonntag verkündet wird: Christus zieht in die Stadt Davids ein.

Was ist das für ein Christus?
Christus sitzt im Reitersitz auf dem Esel, der auf der Stelle steht. Sein schmales, langes Gesicht ist geziert von einem lockigen Bart, die nach unten fallenden Haare bedecken zum Teil die Ohren. Die Augen hat Christus weit geöffnet. Der Mund ist geöffnet, Christus redet. Angezogen ist die Figur mit einem langen roten Gewand mit goldener Bordüre. Über das Gewand verteilt sind goldene Weihnachtssterne und gleichschenkelige Kreuze mit spitz abgekanteten Enden. Die Ärmel sind vorne umgestülpt, so dass man das Futter sieht. Mit der linken Hand hält Christus den Zügel, die Rechte erhebt er, wobei er die offene Handfläche zeigt; die beiden Mittelfinger sind zusammengelegt, der Zeigefinger, der kleine Finger und der Daumen stehen ab. Das ist der Gestus eines Redners, der um Aufmerksamkeit bittet. Drei Strahlenbündel umrahmten einst den Kopf, ein kleiner Rest davon ist noch zu sehen. Das Gewand, das fast an eine edle spätgotische Faltung erinnert, reicht bis zu den Knöcheln, die nackten Füße schauen hervor. Der Esel ist anatomisch nicht ganz richtig gestaltet, hat etwas fantasievolle Ohren und ist im Bereich der Füße relativ grob gearbeitet - im Gegensatz zur edlen Christusfigur. Er steht auf einem eigenartig geschwungenen Brett, bei dem in der Mittelachse vier Schraubenlöcher davon zeugen, dass die Figur auf einem Wagen aufgeschraubt war.

Christus kommt hier nicht - wie bei der gotischen Figur - als der neue davidische König. Hier zieht er ein als Lehrer, als prophetischer Lehrer. Religion ist in erster Linie Lehre. So dachten die Aufklärer. Predigt ist Belehrung des Volkes, damit es weiß, was zu tun ist; denn Religion ist moralisches Handeln vor Gott und den Menschen. Das ist die Idee der Aufklärung. Und dieser Idee entspricht dieser Palmchristus. Christus, der Lehrer der Menschheit, kommt in seine Stadt! Ihm huldigen die Teilnehmer der Prozession. Die Figur des Pollinger Palmeselchristus gleicht auf den ersten Blick jener von Altenstätten. Aber sie stellt dennoch einen anderen Christus dar, nicht den König, sondern den Lehrer.

Polling endete tragisch. Nirgends waren die Vollstrecker der Säkularisation so brutal wie hier. Den Prälaten hat man nach dem Pontifikalamt in der Sakristei verhaftet. Keiner der Mönche durfte auf die Zelle gehen, damit er auch nicht das Geringste hätte beiseite räumen können. Die Patres hatten sich sicher gefühlt, weil sie die Idee der Aufklärung mit den christlichen Grundsätzen zu verbinden wußten. Sie haben dem Aufklärungsgeist so viele Dienste geleistet. Aber deswegen gingen die Schergen dieses Geistes bei ihnen um so hinterlistiger vor. Sie mussten die "Dialektik der Aufklärung"13 am eigenen Leib leidvoll spüren. Von den 80000 Bänden der Bibliothek haben nur 20 000 die Münchener Staatsbibliothek erreicht.14 Die staatlich angeordnete Barbarei im Namen der Kultur ist nirgends spürbarer geworden als an diesem Ort.

Der Palmeselchristus jedenfalls ist ein Zeuge der großen Zeit von Polling: Katholische Aufklärung verbindet sich hier mit frommem Sinn. Wo Zweiterer allerdings wegfällt, wird erstere intolerant und brutal.

3. Der Palmeselchristus von Friedberg15
Der Meister und das Anfertigungsjahr sind bekannt: Johann Kaspar Eberle (1700-1763) hat die Figur 1738 geschaffen. Unter dem Bauch des Esels sind Name und Jahreszahl eingekerbt. Eberle hat man 1996 in Friedberg eine Ausstellung gewidmet. Schon Eberles Vater war Bildhauer. Johann Camper Eberle ist 1700 geboren und 1767 gestorben. Er war das siebte Kind seiner Eltern. Eberle heiratete 1728 Maria Theresia Gölz. Offensichtlich war er ein sehr eigenwilliger Mensch. 1733 musste er einen Tag ins Gefängnis, weil er "sich erfrechet hat, die Deputierten als Nahrn zu intitulieren".16 Er musste auch einen Tag den "Kiedl", d.h., den Schandrock tragen. Zwei Jahre später erhielt er ebenfalls einen Tag Gefängnis. Er habe sich "bei gesessenem Rhat höchststräflich aufgeführt und mit der Handt dem Rhat widers Gesicht zu schnalzen sich erfechet. Zur wohlverdiensten Straf ist er zu einem Tag mit Wasser und Brot in Eisen im Kälberkeller contaminiert worden".17 Es heißt weiter: "Falls er sich nochmahlen insolent aufführen sollte", würde man ihn "höchsterorthen überschreiben und anderen zum Exempel ins Zuchthaus promovieren".18

Die Figur des Esels hat einen wesentlich kürzeren Hals als die anderen Esel. Die übergroßen Ohren und die übergroßen Augen kommen zu einem durch das Zaumzeug zurückgezogenes übergroßes Maul. Christus führt wieder mit der linken Hand den Zügel, die rechte streckt er aus mit einem Segensgestus, der zugleich ein Sprechgestus ist. Der Mund setzt zum Sprechen an, die Augen schauen nicht auf uns, sondern meditierend in die Ferne. Unruhig ist das Gewand gefaltet. Es ist ein hemdähnliches Kleid, das bis zu den Knöcheln reicht. Es ist imprägniertes, mit Leim eingestrichenes Tuch. Die nackten Füße schauen heraus. Die Haare der Christusgestalt sind vom Wind bewegt, ein kleiner Bart ziert das Gesicht. Christus sitzt wiederum auf dem stehenden Esel. Er ist hier nicht bloß der Lehrer. Indem er im Gestus des Rhätors belehrt, segnet er zugleich. Hier zieht der Heiland ein, der Wunder wirkend den Menschen beisteht.

Der Ort dieses Palmeselchristus ist Friedberg bei Augsburg. Die Kirche, in welcher er benützt wurde, ist in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts abgerissen und durch eine neoromanische Kirche ersetzt worden. Damals wurde wohl auch die Figur abgegeben, da man für eine Inszenierung der Palmprozession offensichtlich nicht mehr den Sensus gehabt hat. Die Fronleichnamsprozession hat man anders ausgeschmückt.

4. Der Palmeselchristus von Neuburg an der Kammel19
Das zweite Viertel des 18. Jahrhunderts wird im Katalog als Entstehungszeit angegeben, d.h. zwischen 1725 und 1750. Der Herkunftsort ist klar: Neuburg an der Kammel. Es ist ein relativ kleiner Ort mit einem Schloss auf dem Berg. Etwas unterhalb des Schlosses steht die relativ große Kirche, ein im Kern spätgotischer Bau. Von diesem Ort stammt ein großer Barockbildhauer: Christoph Rodt (1575-1634).20 Der großartige Altaraufbau der Kreuzabnahme Christi, wohl einst Kreuzaltar in Roggenburg, steht seit kurzem in der Pfarrkirche, aus der unser Palmeselchristus stammt. Sicherlich ist dieser Altar wenigstens 100 Jahre älter als unser Palmesel. Sicher aber wurde er gebraucht in der Neuburger Kirche aufgestellt. Der Meister unseres Palmeselchristus könnte identisch sein mit dem Meister des Erbärmdechristus, der heute noch in der Kirche steht. Vor allem die Bearbeitung des Gewandes läßt darauf schließen. Schauen wir nun auf die Figur.

Auf einem anatomisch ungenauen Esel sitzt eine relativ kleine Christusfigur, wiederum im Reitersitz, angetan mit einem einfachen Hemdgewand, das in der Taille mit einer Kordel gegürtet ist und bis zur Mitte der Waden reicht. Die nackten Füße hängen wiederum nach unten. Mit der Linken hält Christus den Zügel, die Rechte hält er zum Segensgestus, wobei der kleine und der Ringfinger eingezogen sind, die drei anderen Finger sich nach oben Strecken. Das Gewand Christi ist am Hals und am Saum mit einer Goldbordüre geziert. Der Kopf über dem relativ breiten Hals ist mit langem Haar und einem Bart geziert, wobei das Haar sich nach hinten verengt, so dass ein Textil-Rauchmantel darüber gehängt werden kann. Christus hat den Kopf nach rechts geneigt. Der Mund ist leicht zum Reden geöffnet. Der Blick geht halb nach oben. Dies deutet an: Christus spricht und schaut zugleich nach oben, seine Rede könnte auch ein Gebet sein. Es ist der demütige Christus, der zum Ort seiner Hinrichtung zieht, auf einem Esel sitzend. Aus dem Kopf ragten ursprünglich drei Strahlenbündel, die den göttlichen Glanz andeuten (Die Stecklöcher sind noch vorhanden.) Die Figur steht auf einem geschweiften Brett, das mit breiten, kleinen Rädern gezogen werden kann. Rädern, die auch auf holprigem Pflaster noch Dienst tun.

Zusammenfassung und Ausblick
Die vier Palmeselchristus, die wir betrachtet haben, waren alle vier für die Palmprozession bestimmt. Sie hatten dabei ausschließlich diese Funktion zu veranschaulichen. Die gotische Figur zeigt Christus, den König. Die Pollinger Barockfigur zeigt Christus, den Lehrer. Die Friedberger Figur zeigt Christus, den Heiland. Und die Neuburger Figur zeigt Christus, den Gehorsamen. Allen Figuren folgte eine Gemeinde, die sang: "Hosanna, dem Sohne Davids; hochgelobt sei, der da kommt im Namen des Herrn." Und für jede Gemeinde war die Figur Einleitung, um die Passionsgeschichte zu hören. Sie stellten damit gleichsam eine Überschrift über das dar, was man in der Passionswoche betrachten und erleben wollte. Die Christusgestalt des Königs, Lehrers, Heilands und Gottesknechts sollte gleichsam zum leitenden Prinzip aller Betrachtungen werden. Bestimmend für die jeweilige Sicht des Christus scheint der Kontext gewesen zu sein, d.h. das Gefühl der Menschen für das, was sie brauchten und was beim Betrachten der Leiden ihrem Leben hilfreich schien.

Wir müssen zum Schluss die Frage vom Anfang aufgreifen, inwiefern solche Figuren uns heute hilfreich sein können, um als Bilder zu dienen, die unseren Glauben anregen und bestärken.

Ich denke: Zunächst müssen wir unserem kunsthistorischen und volkskundlichen Interesse genüge tun. Wir müssen die Figuren als Zeugen des Glaubens ihrer Zeit ansehen. Dies können wir zu Wort bringen und damit dem historischen Zeugnis Lebensnähe verleihen. Dabei müssen wir das Bild sprechen lassen, indem wir es beschreiben und hinzusagen, was wir von den Künstlern und Auftraggebern wissen. Darüber hinaus aber müssen wir, wenn solches Zeugnis uns nahe gehen soll, hinzusagen, wie ein Palmeselchristus für heute aussehen sollte. Wir müssen das Bild gleichsam umschnitzen, es "zerstören" und ihm neue Schwerpunkte anheften. Dazu brauchen wir sensible Künstler. Dann entsteht ein Christusbild, das als Überschrift für die Betrachtungen der Karwoche dienen kann.

Anmerkungen

1 Das Herzogliche Georgianum München besitzt eine beachtliche Sammlung religiöser Kunst, die in einem 1986 eröffneten Museum ausgestellt ist. In dieser Sammlung befinden sich vier Palmeselchristus, die die Grundlage der folgenden Überlegungen darstellen. Diese wurden beim Treffen der Freunde des Herzoglichen Georgianums am 16. Januar 1997 vorgetragen.

2 Vgl. Chr. Dohmen, Das Bilderverbot. Seine Entstehung und seine Entwicklung im Alten Testament (BBB 62), Frankfurt a. M. 11987, 284.

3 Vgl, U. Eco, Das offene Kunstwerk (stw 222), Frankfurt 1977.

4 Vgl. H.-D. Döpmann, Die Ostkirche vom Bilderstreit bis zur Kirchenspaltung 1054 (KGE 1,8), Leipzig 1990.

5 Vgl. DH, 600-603.

6 Vgl, R. Warland, Art.: "Ikone", in: LThK 5, Freiburg '1996, 416.

7 Literaturauswahl: J. A. v. Adelmann, Christus auf dem Palmesel, in: Zeitschrift für Volkskunde 63 (1967), 182-200; H. J. Gräf, J. Hermann, Palmweihe und Palmprozession in der lateinischen Liturgie (Veröffentlichungen des Missionspriesterseminars St. Augustin, Siegburg), Kaldenkirchen 1959; R. Haller, ?Unser Herr am Palmbtag sambt einem Roth Tiechernen Mäntel". Palmesel und Palmeselbrauchtum im Bayerischen Wald, in: Der Bayerwald 74 (1982), 11-26; L. Kretzenbacher, Palmeselumfahrten in der Steiermark, in: Blätter für Heimatkunde 27 (1982), 83-90; E. Lipsmeyer, Jahreslaufbrauchtum. Palmsonntag-Christus und Palmesel, in: Volkskunst 1 (1989), 50-58; D.-R. Moser, Bräuche und Feste im christlichen Jahreslauf: Brauchformen der Gegenwart in kulturgeschichtlichen Zusammenhängen, Graz u. a. 1993, 1126; M. Peinkofer, Von niederbayerischen Palmeseln, in: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde (1955), 79-85.

8 Vgl. R. Kaczynski (Hg.), Kirche, Kunstsammlung und Bibliothek des Herzoglichen Georgianums Regensburg 1994, 78.

9 Ganz nahe bei Berching liegt Erasbach, die Heimat des großen Operninitiators Christoph Willibald Gluck

10 Mitteilung von Pfr. Georg Endres.

11 Vgl. R. Kaczynski, Kirche, Kunstsammlung und Bibliothek des Herzoglichen Georgianums (wie Anm. 8 ), 60.

12 Vgl. J. Hemmerle, Art.: ?Polling", in: LThK 8, Freiburg '1963, 592.

13 Titel des bahnbrechenden Buches von Max Horkheimer und Theodor Adorno, erste Auflage Amsterdam 1947.

14 Vgl. H. u. A. Bauer, Klöster in Bayern. Eine Kunstund Kulturgeschichte, München 1993, 33-37; L. Scheffczyk, Theologie im Aufbruch: 19. Jahrhundert, in: W. Brandmüller, Handbuch der Bayerischen Kirchengeschichte , St. Ottilien 1991, 479; J. Hemmerle, Art.: "Polling", in: LThK 8, Freiburg 21963, 592.

15 Vgl. R. Kaczynski, Kirche, Kunstsammlung und Bibliothek, (wie Anm. 8), 66.

16 Ausstellungskatalog zur Ausstellung im Heimathaus Friedberg: Die Bildhauer Batholomäus Eberle und Johann Caspar Eberle, Manuskript, hrg. H. Raab, Zur Person des Johann Caspar, 3.

17 ebd.

18 ebd.

19 Vgl. R. Kaczynski, Kirche, Kunstsammlung und Bibliothek (wie Anm. 8), 92.

20 Von ihm stammen der Hochaltar in Illertissen 1604, das Chorgestühl in Roggenburg 1626-1628 und der Kreuzaltar. Er siedelte nach Großkötz bei Günzburg, das zu Österreich gehörte, und war dort Zöllner. Vgl. die Kreuzabnahme von Christoph Rodt aus Neuburg an der Kammel (Denkmalpflege-Informationen, Ausgabe D, Nr. 6, 17. Dezember 1989, 3-16).

Besprochene Darstellungen:

1. Palmeselchristus von Altstätten (Holz 135/ 130 cm), Kempten, um 1490/1500
2. Palmeselchristus von Polling (Holz 1471137cm), Oberbayern, um 1660
3. Palmeselchristus von Friedberg (Holz 150/116 cm, getränkte Leinwand), Johann Kaspar Eberle (Friedberg 1700-1767)
4. Palmeselchristus aus Neuburg an der Kammel (Holz 120/97cm), zweites Viertel des 18. Jahrhunderts

Vortrag am Altgeorgianertreffen 1997

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